Das Mittelalter – Versuch einer Begriffsdefinition

Das Mittelalter erfreut sich zunehmender Beliebtheit – sei es im Reenactment, auf Mittelaltermärkten im Kino oder auch im Bücherregal.
Bei dieser Fülle an Eindrücken und Informationen stellt sich natürlich die Frage: Was bedeutet „Mittelalter“ überhaupt?
Schon die Suche nach eindeutigen Kriterien, mit denen sich „das Mittelalter“ beschreiben ließe, gestaltet sich so schwierig, dass jeder Aspekt beleuchtet werden kann. Viel mehr soll der Versuch unternommen werden, anhand einzelner Fragestellungen einen ersten Eindruck von einer spannenden Epoche und den Menschen, die darin gelebt haben, zu vermitteln:

1. Wann war das Mittelalter?
2. Wo war das Mittelalter?
3. Wie war das Mittelalter?


Wann war das Mittelalter?

Schon die genaue zeitliche Einordnung gestaltet sich in Bezug auf den Begriff „Mittelalter“ schwierig. In der Literatur finden sich zahlreiche Angaben zu Zeiträumen, historischen Ereignissen etc., die je nach Betrachtungsweise Anfang und Ende dieser Epoche definieren.
Verfolgt man etwa den naheliegenden Weg, den Begriff wörtlich zu verstehen, führt uns das „Mittelalter“ zum „mittleren Alter“ oder auch zum „Zeitraum dazwischen“.
So teilt zum Beispiel Christoph Cellarius (1638–1707) in seinem Werk „Historia Universalis“ (1702) die Geschichtswissenschaften in Alte, Mittelalterliche und Neue Geschichte ein. Dieser Begrifflichkeit folgen zahlreiche Autoren mit ihrer Definition des Mittelalters als Epoche zwischen der Antike und der Moderne.
Ausgehend von dieser Unterteilung finden sich in der Literatur zahlreiche zeitliche mehr oder minder nachvollziehbare Abgrenzungen für das Mittelalter. So orientiert sich der Zeitrahmen 500 bis 1500 zumindest annähernd am Untergang des Weströmischen Reiches (als Ende der Antike) 476 bzw. an der Entdeckung Amerikas durch Christoph Columbus 1492 oder auch am Beginn der Reformation um 1520 (als Beginn der Neuzeit).
Weitere davon abweichende Daten sind zum Beispiel die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 als Beginn oder die Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 als Ende der Epoche.

Aus dieser Vielzahl von verschiedenen Jahreszahlen lässt sich zwar ein grober Zeitrahmen erkennen, es wird aber auch deutlich, dass eine genaue Einordnung nicht kategorisch möglich ist, sondern vielmehr von der Betrachtung bzw. der Gewichtung einzelner Aspekte abhängt. Bei den oben genannten Daten werden unter anderen bedeutende Daten kirchlicher, territorialer oder auch wissenschaftlicher Umbrüche herangezogen.
Die zeitliche Einordnung unterscheidet sich unter Umständen auch von Land zu Land. So wird der Beginn des Mittelalters in Skandinavien nicht zwischen 500 und 800 gesehen, sondern deutlich später um das Jahr 1060, das mit dem Untergang der Ynglingar-Dynastie einen merklichen Wandel im nordeuropäischen Raum einleitet.
Hier zeigt sich deutlich, dass neben dem zeitlichen Verständnis für das Mittelalter ein zweiter Punkt zur Orientierung sehr wichtig ist:


Wo war das Mittelalter?

Zahlreiche Autoren benennen das Mittelalter als eine Epoche der europäischen Geschichte. Schon der vorangegangene Abschnitt hat uns aber gezeigt, dass die Verwendung allumfassender Beschreibungen in Bezug auf das Mittelalter Probleme aufwirft. Welcher geographische Raum ist also gemeint? Westeuropa? Zentraleuropa? Mit oder ohne Skandinavien, dem Baltikum, dem Nahen Osten etc.?
In der Literatur wird das Mittelalter in etwa auf das Gebiet der heutigen Europäischen Union und deren Peripherie bezogen, jedoch sollte man je nach behandeltem Thema durchaus vorsichtig mit dieser verallgemeinerten Beschreibungen umgehen.
Wie schon bei der zeitlichen Einordnung angedeutet wurde und im nachfolgenden Abschnitt sicherlich noch klarer wird, kommt es bei jeder der gestellten Fragen stark auf die angewendeten Kriterien an. Vor allem in Verbindung mit der Frage, was das Mittelalter eigentlich ist, wird sich zeigen, dass verschiedene Aspekte unterschiedlich stark auf unterschiedliche Regionen zutreffen.
Somit wird hier die Zuordnung auf Europa in groben Zügen ausreichen.

Sicher ebenso interessant wie die Frage, wie wir unseren modernen Begriff des Mittelalters räumlich zuordnen, ist jedoch auch die Frage, wie die Menschen der damaligen Zeit selbst ihren Lebensraum begriffen und auch abgrenzten.
Gute Anhaltspunkte hierzu gibt uns zum Beispiel das erhaltene Kartenmaterial.
Es finden sich zahlreiche, für unser heutiges Kartenverständnis eher idealisierte Kartendarstellungen, die viel mehr ein Weltverständnis wiedergeben, denn eine realitätsnahe geographische Darstellung, die sogenannten „Mappae Mundi“. Ursprung dieser Karten sind häufig Klöster, wo diese oft als Illustrationen zu schriftlichen Werken angefertigt wurden.
Häufig befindet sich Jerusalem als Glaubenszentrum im Mittelpunkt der auf der Karte dargestellten Welt, wie z. B. auf der Londoner Psalterkarte (zwischen 1200 und 1250), der Ebstorfer Weltkarte (um 1300), oder auch der Walsperger Radkarte (1448), die zudem noch für unser Verständnis auf dem Kopf, also mit Norden am unteren Bildrand dargestellt ist. Inhaltlich zeigt sich bei den Karten dann entsprechend der darstellerischen Vielfalt auch eine große inhaltliche Bandbreite. Die dargestellte Welt Welt, sofern tatsächlich zuordenbar, reicht vom Mittelmeerraum mit dem heutigen Westeuropa über den nahen Osten bis nach Vorderasien und Afrika.
Häufig, wie auch auf der Walsperger Karte, werden zusätzlich religiöse Elemente (z. B. die himmlischen Heerscharen) oder astrologisch bedeutsame Formationen (Tierkreiszeichen, Sternbilder) als fester Bestandteil der Welt aufgegriffen.

Dem gegenüber finden sich jedoch tatsächlich auch Darstellungen, die in ihrer Darstellung große Ähnlichkeiten mit modernem Kartenmaterial aufweisen.
Ein erstaunliches Beispiel hierfür ist die sogenannte Ptolemäische Weltkarte, die vermutlich in den ersten Jahrhunderten nach Christus im griechischen Raum angefertigt wurde und im 14. Jahrhundert ihren Weg nach Europa fand, wo sie mehr oder weniger unverändert übernommen wurde. Selbstverständlich ist die Genauigkeit nicht mit modernem Kartenmaterial vergleichbar, aber zahlreiche geographische Merkmale, vor allem des Mittelmeerraums, sind in ihrer Form klar wiederzuerkennen. Entferntere Bereiche wie Asien und Afrika sind zwar deutlich verfremdet, jedoch tatsächlich dargestellt. Die großen Unterschiede in der Exaktheit der Darstellung zwischen Europa und den weiter entfernten Gebieten könnte durchaus als Anzeichen dafür interpretiert werden, dass Europa, ähnlich den „Mappae Mundi“ als Mittelpunkt der Welt gesehen wird, Asien und Afrika zwar bekannt sind, aber neben anderen Faktoren auf Grund fehlenden Wissens und der großen Distanz nicht als Teil der eigenen Welt begriffen wurden.


Wie war das Mittelalter?

Nachdem die ersten beiden Fragen schon erhebliche Probleme bei einer konkreten Beantwortung aufwarfen, erreichen wir spätestens bei der Frage nach dem Wie einen Punkt, bei dem eine vollständige Erklärung in diesem Rahmen schlichtweg nicht möglich ist. Die allumfassende Beschreibung einer kompletten Gesellschaftsform wäre mit all ihren Aspekten und Teilbereichen so umfangreich, dass sie für einen ersten Überblick nicht mehr überschaubar wäre.
Daher soll hier der lediglich der Versuch erfolgen, anhand grundlegender Merkmale ein erstes Gefühl für den Aufbau der mittelalterlichen Gesellschaft zu erzeugen. Und selbst diese Merkmale erheben keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit, sondern können regional und zeitlich abhängig mehr oder weniger stark ausgeprägt sein. Auch können einzelne Aspekte durchaus in früheren oder späteren Epochen schon oder noch anzutreffen sein, so dass sich die Definition der mittelalterlichen Gesellschaft nicht durch einzelne Merkmale, sondern tatsächlich erst durch die Vielzahl der gemeinsam anzutreffenden Charakteristika ergibt.

Eine grundlegende Charakterisierung kann anhand der bereits eingangs erwähnten Definition des Mittelalters als Epoche zwischen der Antike und der Neuzeit erfolgen.
Politisch gesehen verschob sich das Machtgefüge von der griechisch und römisch dominierten Antike hin zu den europäischen Feudalstaaten des Mittelalters mit ihrem vom Lehens- und Ständesystem geprägten Aufbau.
Aus religiöser Sicht erreichte die in der Spätantike einsetzende Verbreitung des Christentums im Mittelalter seinen Höhepunkt, der Einfluss der Kirche reichte von den alltäglichen Abläufen bis hin zur europäischen Politik. Unter Berücksichtigung der Kreuzzüge, des Kirchenbanns selbst für führende Monarchen bis hin zum Kaiser und vielen anderen Ereignissen muss der Einfluss der Kirche letztendlich sogar höher eingestuft werden, als der eines jeden einzelnen profanen Herrschers des mittelalterlichen Europas. Die Kirche bildet darüber hinaus über lange Zeit auf Grund ihres Alleinanspruchs auf Allwissenheit das Zentrum für Bildung und Kunst in Europa.
Zunehmend aufgeweicht und letztendlich zurückgedrängt wurde dieser alleinige Anspruch der Kirche auf die Allwissenheit erst in der Renaissance und den nachfolgenden Epochen, wo die kirchlichen Lehren zusehends durch wissenschaftliche Fortschritte hinterfragt und widerlegt wurden.

Selbstverständlich war die mittelalterliche Gesellschaft über den langen Zeitraum von rund tausend Jahren nicht statisch, sondern im ständigen Wandel begriffen. Handel, Handwerk, Waffentechnik, Mode, Architektur … – sämtliche Bereiche der Gesellschaft veränderten sich. Diese Veränderungen sind über die Jahrhunderte teils so groß, dass im deutschsprachigen Raum eine Unterteilung des Mittelalters erfolgte, um eine genauere Zuordnung zu ermöglichen.

Als Frühmittelalter wird in etwa der Zeitraum von Beginn des Mittelalters (ca. 5. bis 6. Jahrhundert) bis zum 10. Jahrhundert angesehen.
Begleitet wurde der Übergang von der Antike zum Mittelalter von der Völkerwanderung, deren Folgen noch lange spürbar waren. In ihrem Schatten konnte die Christianisierung Europas weiter voranschreiten und ein frühes Feudalsystem die antiken Strukturen ablösen. Dies geschah nicht in allen Bereichen Europas zur selben Zeit, sondern entwickelten sich vor allem in Westeuropa schneller, während im östlichen Mittelmeerraum antike Elemente deutlich länger spürbar waren. Weitere wichtige Einschnitte im Verlauf des Frühmittelalters sind z. B. die Einfälle der Wikinger von Skandinavien aus vor allem in Großbritannien und Frankreich, die sich dann über den gesamten europäischen Raum ausweiteten, sowie die Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 und der damit verbundene Aufstieg des Frankenreichs.

Das Hochmittelalter, ca. ab dem 10. Jahrhundert bis Mitte des 13. Jahrhunderts, kann als die Epoche angesehen werden, die dem romantischen Bild des Mittelalters am ehesten nahe kommt. Im Hochmittelalter erreichte die Bedeutung des Feudalsystems, d. h. die Strukturierung der Gesellschaft durch die Vergabe von Lehen, die Anwendung der Leibeigenschaft und die Unterteilung der Gesellschaft in Adel, Klerus und Bauern, ihren Höhepunkt.
Wichtigste Verwaltungszentren sind auf profaner Ebene die Burgen als Sitze der Ritter und des Adels, sowie auf klerikaler Ebene die Klöster und Bischofssitze, aus denen sich zunehmend Städte entwickeln.
Als Meilensteine sind im Hochmittelalter vor allem die Kreuzzüge zu nennen, die einerseits den gewaltigen Einfluss der katholischen Kirche auf die weltlichen Herrscher aufzeigen, in deren Schatten aber die Entwicklung von Fernhandelsrouten sowie der Wissenstransfer mit dem Orient voranschritt.
Die zunehmende Politisierung der Kirche führte im sogenannten Investiturstreit zum Konflikt der weltlichen Herrscher mit der Kirche, insbesondere mit dem Papst, worauf die Einsetzung mehrerer Gegenpäpste die kirchliche Ordnung stark belastete.

Im Spätmittelalter ab ca. Mitte des 13. Jahrhunderts bis Ende des 15. Jahrhunderts, erlebt das Bürgertum in den Städten einen gewaltigen Aufschwung. Die zunehmende Bedeutung des Handels verlagert das Kapital mehr und mehr vom Adel zu den Handwerkern und Händlern in den Städten. Mit zunehmender Kapitalkraft wächst auch der politische Einfluss, so dass am Ende des Mittelalters zahlreiche Städte in erster Linie von den Zünften regiert werden, der Adel verfällt mehr und mehr in finanzielle Abhängigkeit vom Bürgertum. In Südeuropa sind als Beispiel hierfür vor allem die Stadtstaaten wie Genua und Venedig zu nennen, im nordeuropäischen Raum war die Hanse der bedeutendste und einflussreichste Verbund von Handelsstädten.
Gegenüber Früh- und Hochmittelalter sind auch in Kunst und Wissenschaft erste große Veränderungen spürbar, das Spätmittelalter bereitet gegen Ende des 15. Jahrhunderts die Grundlage für die umwälzenden Bewegungen der Renaissance.
Extremen Einfluss auf große Teile Europas hatte in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Pest, die in mehreren Wellen teils bis zur Hälfte der Bevölkerung auslöschte.
Militärisch wurde das Spätmittelalter einerseits vom Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich geprägt, den Frankreich 1453 für sich entscheiden konnte und der die Engländer endgültig auf die britischen Inseln zurückdrängte, zum anderen der Fall Akkons als letzte Kreuzfahrerfestung im nahen Osten im Jahr 1291 und die Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahr 1453 und der damit verbundene endgültige Rückzug der christlichen Herrscher aus dem östlichen Mittelmeerraum.

Für das Ende des Mittelalters können, wie bereits bei der zeitlichen Einordnung angeführt, zahlreiche Ereignisse benannt werden. Als bester Indikator kann der gesellschaftliche Umbruch herangezogen werden, der durch die im Spätmittelalter einsetzenden Veränderungen in Wissenschaft, Weltbild und Machtgefüge eingeleitet wurde, was schließlich die Renaissance, und damit die Neuzeit, einläutete.

Literatur:
Peter Dinzelbacher: Europa im Hochmittelalter 1050–1250. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte (2003) ISBN 3896784749;

Zur Gesellschaft im Hochmittelalter:
David Nicolle: The Wars of the Crusades 1096–1291 (1988) ASIN: B001W8QE4K

Zu den Kreuzzügen aus militärischer Sicht:
Stiftung Bozner Schlösser: Krieg Wucher Aberglaube (2011) ISBN 9788882667870; über den Aufstieg einer Südtiroler Händlerfamilie in den Adel im späten 14. und 15. Jh.


Florian Fischer / Oktober 2011