Kaum ein Begriff des Frühmittelalters ist so emotionsgeladen wie der des "Wikingers", Mythen mischen sich mit Halbwissen, auf kaum eine gesellschaftliche Gruppe wird so viel projiziert wie auf die "Wikinger". Landläufige Vorstellungen ranken sich um ein metsaufenden Krieger, der auf Schiffen übers Meer fährt und Klöster plündert und Kirchen niederbrennt. Die Ausstellung wurde mehrfach in der Presse als größte Wikingerausstellung seit 20 Jahren bezeichnet, Grund genug nach Berlin zu fahren und mir selbst ein Bild zu machen.

Hauptaugenmerk der Ausstellung lag auf einem spektakulären Fund aus dem Jahre 1996 im Roskilde, als im Sund von neun Schiffe im Schlamm des Hafenbeckens gefunden wurden. Natürlich konnte man die Funde nicht einfach ausgraben, feuchtes Holz diesen Alters würde beim Trocknen schlicht zerfallen. Also musste nicht nur eine Grabungs-, sondern auch eine neue Konservierungstechnik entwickelt werden.
Auch einer Landratte wie mir wird beim Betrachten der Bootsrekonstruktion und der dazugehörigen Funde eindrucksvoll vor Augen geführt, wie unendlich hart das Leben an Bord dieser - nach heutigem Verständnis - Nussschalen gewesen sein muss. Nachdem die Boote keine Deckaufbauten hatten und die Boote nur knapp einen Meter tief im Wasser lagen, müssen die Menschen auf den Booten zusammengepfercht und dabei eigentlich immer klatschnass gewesen sein. Immerhin passten auf die Roskilde6 wohl um die 100 Menschen, auf kleineren Schiffe befanden sich dann doch immerhin um die 60 Menschen.
Interessant fand ich in diesem Zusammenhang eine Erkenntnis aus einer Überfahrt mit einem Nachbau der Roskilde6 nach Irland: Nur mit absoluter und unmittelbarer Befehlshierarchie und militärischer Disziplin war das Leben an Bord dieser Schiffe zu meistern, nicht zuletzt deswegen, weil die Besatzung der Schiffe "lebender Ballast" war und auf Kommando die Schwankungen des Schiffes ausgleichen musste.
Also wird vermutlich kein Met an Bord eines Schiffes getrunken worden sein - jedenfalls solange man den nächsten Tag überleben wollte.

Einen umfangreichen Eindruck über die Reichweite der Handelsbeziehungen der sog. Wikinger bekommt man in dem Themenbereich "Kontakt und Austausch": Allgemein bekannt sind die Handelsbeziehungen nach Irland, England und nach Europa, dass es aber auch Handelsniederlassungen im Gebiet des heutigen Irak gab und dass das arabische Gewichtssystem (vor allem zum Bestimmen des Gewichtes von Silber) in sehr umfangreichem Maße übernommen wurde, war mir in diesem Umfang nicht bewusst.

Das Kapitel "Krieg und Herrschaft" ist geprägt von Waffen, auch hier wird ein weit verbreitetes Bild korrigiert: Nicht die Axt stand im Mittelpunkt der Bewaffnung, sondern das zweischneidige Schwert mit einer ca. 1m langen Klinge. Äxte gab es zwar durchaus schon auch, aber die gehörte zu den Waffen des einfachen Bauern. Auch hier spielte Arbeitsteilung und Import eine gewisse Rolle. Weil man selber nicht genug Schwertklingen in ausreichender Qualität herstellen konnte, importierte man Klingen gerne aus dem fränkischen Reich und versah sie mit eigenen Knäufen, Parierstangen etc.

Die Zeit der sog. Wikinger umfasst üblicherweise die Jahre von der Zerstörung von Lindisfarne, einem Kloster in England im Jahre 793 bis zur Schlacht in Hastings 1066. Im Bereich "Glaube und Ritual" ging es naturgemäß viel über die religiösen Vorstellungen in Skandinavien des Frühmittelalters. Magie und Geistervorstellungen, Göttervorstellungen und Rituale bestimmen das religiöse Leben der Wikinger, auch wenn hier die Leerstellen größer sind als sonst. Die wenigen schriftlichen Quellen, die uns über das religiöse Leben der „Wikinger“ berichten, stammen aus christlicher Zeit. Mir ist wieder bewusst geworden, dass die Christianisierung der "Wikinger" im Jahre 960 beginnt, ein Drittel der Blütezeit der "Wikinger" ist christlich also geprägt. Wieder nix mit metsaufenden Heiden.

Die Ausstellung ist umfangreich und echt empfehlenswert, für jemanden der sich mit dieser Zeit beschäftigt ist sie Pflichtprogramm. Hier gilt ähnliches wie für die Ausstellung über die Kelten in Stuttgart vor ein paar Jahren.
Allerdings bleiben auch viele Leerstellen und das fand ich etwas schade: Das Alltagsleben spielte kaum eine Rolle, es gab keine Versuch das Phänomen der "Wikinger" einzuordnen - auch wenn das sicher nur sehr bedingt möglich ist. Sicher sind nicht alle waffenfähige Männer Skandinavien vom 9. bis zum 11 Jahrhundert jeden Sommer oder auch über mehrere Jahre hinweg auf Beutefahrt gegangen sein. Irgendjemand muss ja schließlich die Felder bestellt haben und gemessen am Arbeitsaufwand den Landwirtschaft in dieser Zeit bedeutete, muss das ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung gewesen sein.

Moderne Archäologie hält sich mit Interpretation der Funde sehr zurück - vielleicht, weil man weiß, dass man sich in früheren Forschergenerationen häufig geirrt hat oder zu viel der eigenen Erfahrungen auf die Funde projiziert hat. Das macht es für den Laien oft nicht einfach, die Funde einzuordnen, nicht jeder weiß, was ein Brakteat oder was Niello ist. Da wären mehr Informationen In Form von Texttafeln oder Schaubildern hilfreich gewesen. Auch manche Multimediainstallation ist m.E. überflüssig, vor allem die multimediale Bebilderung des Massengrabes von Wexford. Aber erfreulicherweise gibt es für so altmodische Menschen wie mich, die gerne lesen einen umfangreichen Katalog von ca. 290 Seiten, der mit 29,80€ sogar bezahlbar ist.

Die Ausstellung ist noch bis zum 4.01. 2015 in Berlin im Martin Gropius Bau zu sehen, danach wandert sie weiter nach Kopenhagen.