Buchrezension Jaques Le Goff: „Geld im Mittelalter“ ( 2010 )

Geradezu passend zur aktuellen Situation von Finanzwelt und Wirtschaft in Europa erschien 2010 das Buch „Le moyen Age et lárgent“, oder „Geld im Mittelalter“, wie die deutsche Übersetzung von 2011 benannt wurde.

Inhalt
Le Goff zeichnet in seinem Buch die Entwicklung des Geldes über die gesamte Zeitspanne des mittelalterlichen Europas nach. Basis der Betrachtung ist dabei die Geldwirtschaft des ausgehenden römischen Reiches, welche auf Grund der Ausdehnung des Imperium Romanum  in weiten Teilen Europas die Ausgangslage zu Beginn des Frühmittelalters darstellte.
Der erste Teil des Buches folgt, ausgehend vom Römischen Finanzwesen, dessen zunehmendem Verfall im Verlaufe der Entwicklung der frühmittelalterlichen Gesellschaft aus den antiken Strukturen heraus.
Dabei zeichnen die Ausführungen zunächst die sinkende Bedeutung des Geldes und vor allem des Münzwesens durch das Frühmittelalter hindurch nach. Ausgehend von Karl dem Großen wird die Stabilisierung des Geldmarktes und der schrittweise Rückgewinn der Bedeutung sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch überregional im Handel nachvollzogen.
In einem zweiten Teil befasst sich Jaques Le Goff mit dem Hochmittelalter und speziell mit dem 13. Jahrhundert, welches die Entwicklungen des Hochmittelalters in einer Blüte des Finanzwesens mit zahlreichen neu entstehenden Finanzstrukturen, umfassenden Organisationsversuchen des Münzwesens und der schrittweisen Umformung des Abgabensystems hin zu einem System auf monetärer Basis abschließt.
Neben den unmittelbaren Entwicklungen des Finanzwesens, wie etwa die Entstehung der sog. Wucherer ( frühe Form der Geldverleiher / Kreditgeber ) oder auch buchhalterischer Methoden werden auch Veränderungen beschrieben, die zwar nicht unmittelbar verknüpft sind, letztendlich aber als Resultat dessen spürbar werden. So werden einerseits die finanztechnischen Fortschritte behandelt, die die Formung der mittelalterlichen Staatshaushalte erst ermöglichen, aber ebenso auch die auf der Kehrseite entstehende wachsende Kluft zwischen Arm und Reich.
Im letzten Teil des Buches wird das Spätmittelalter behandelt, welches gegenüber dem Früh- und Hochmittelalters eine gewisse Sonderstellung einnimmt. Im 14. und 15. Jahrhundert erfahren zahlreiche Entwicklungen, die bereits im 13. Jahrhundert ihren Anfang nahmen, eine Perfektion, die zu gravierenden Umbrüchen in der Gesellschaft führen.
Le Goff geht dabei vor allem auf die Städte ein, welche sowohl als politisches als auch als Handelszentrum von immer größerer Bedeutung sind. Die zunehmende Verschuldung der noch im Hochmittelalter führenden Schichten der Gesellschaft wird ebenso behandelt, wie die Entstehung des Bürgertums als erste Gesellschaftsschicht, deren Lebensgrundlage als Händler oder Handwerker überwiegend oder fast ausschließlich monetär erwirtschaftet wird. Damit einhergehend können somit zahlreiche, auf dieser breiten monetären Grundlage basierende Sparten Fuß fassen, darunter die Entwicklung der Wucherer des Hochmittelalters zu Wechslern, Bankiers etc des Spätmittelalters.
Anhand verschiedener Nebenthemen, wie der Entstehung der Bettelorden als Gegenbewegung zu einer mehr und mehr ökonomisch orientierten Gesellschaft oder auch eher theoretischen Betrachtungen zum sich ändernden Geldverständnis der Bevölkerung umschreibt der Autor die immer komplexere Entwicklung der Gesellschaft.
Dabei wird hervorgehoben, dassdas Geldwesen zwar über das gesamte Mittelalter hindurch eine stetige Entwicklung durchläuft, allerdings selbst im ausgehenden Mittelalter weit von einem modernen Verständnis der Ökonomie und der Wirtschaft entfernt bleibt. Deutlich wird dieser Unterschied vor allem dann, wenn Le Goff im religiösen Gesichtspunkt auf das sich  im Laufe des Mittelalters ändernde Verhältnis der Menschen zum Geld bzw. das Ansehen der direkt mit Geld arbeitenden Menschen eingeht. So erfährt der Umgang mit Geld zwar zum Spätmittelalter hin eine Art Rehabilitierung bezüglich der Sündhaftigkeit ökonomischer Aspekte ( v.a. Habgier ), bleibt jedoch weit von einem modernen Selbstbewusstein des Finanzwesens entfernt.

„Triviale Fachliteratur“
Jacques Le Goff versucht in seinem Buch, einen Überblick über ein sehr weit gefasstes und sehr komplexes Thema über einen großen Zeitraum zu schaffen. Er erschwert das Verständnis der Materie nicht zusätzlich durch eine wissenschaftliche, vor Fachtermini strotzende Sprache, sondern findet eine verständliche, klare Schreibart, die zwar zu Beginn für ein Fachbuch gewöhnungsbedürftig erscheint, letztendlich aber mit einem angenehmen, beinahe an Trivialliteratur erinnernden Lesefluss animiert, sich dieses doch eher umständliche Thema zu erarbeiten.
Die Sichtweise wechselt häufig zwischen einer eher theoretischen Betrachtung des gesamteuropäischen Zusammenhangs und einzelnen konkreten Beispielen. Diese Fallbeispiele sind zwar für die lebhaftere Darstellung der Vorgänge notwendig und wichtig, jedoch erfolgt der Wechsel häufig sehr abrupt, so dass die Unterscheidung zwischen großem Zusammenhang und einzelnem Beispiel oder auch – was weitaus verwirrender  ist – Sonderfall bedeutend schwerer fällt.

Darüber hinaus führt Le Goff im Text selbst beinahe keine Quellenzitate auf, was die Abgrenzung seiner eigenen Meinung gegenüber belegten Tatsachen oder auch Sekundärliteratur schwierig gestaltet.
Besonders auffällig wird dies zum Beispiel bei der anfänglich genannten These, Münzgeld habe im gesamten Verlauf des Mittelalters eher untergeordnete Bedeutung und sei vor allem zu Beginn und bis Mitte des Hochmittelalters beinahe verschwunden. Im krassen Gegensatz dazu werden später die Bedeutung der großen Münzprägestätten dieser Zeit und  die Verknüpfungen von Münzrecht, Silberbergbau und –handel herausgearbeitet, ohne damit explizit die vorgenannte These zu widerlegen. Es entsteht ein Widerspruch, der auch im weiteren Verlauf der Ausführungen nicht aufgelöst wird.

Details und Überblick
Logischerweise können in einem überblickhaften Text keine Details und Feinheiten aufgeführt werden, da sonst das Verständnis der allgemeinen Zusammenhänge deutlich erschwert werden würde. So beschränkt sich Le Goff auf grundsätzliche Entwicklungen und Abläufe und bezieht lediglich Nebenaspekte mit ein, die bedeutenden Einfluss auf die Entwicklungen hatten. So behandelt er z.B. die Bettelorden generell als Gegenbewegung zum emporstrebenden ökonomisch orientierten Bürgertum, ohne sich in Einzelheiten über die Unterschiede der verschiedenen Orden zu verlieren.
An anderen Punkten wiederum, wie etwa der Entwicklung der nicht an blanke Währung gebundenen Finanzgeschäfte, führt er Details, hier die Unterschiede zwischen Wechseln, Beleihungen, Schuldscheinen etc., so ausführlich aus, dass die Einbindung in den Gesamtzusammenhang der internationalen Wirtschaftsbeziehungen etwas verloren geht.
Neben der Reduzierung der weit gefächerten Finanzwelt des Mittelalters auf wesentliche Aspekte neigt Jaques Le Goff in vielen Bereichen dazu, die beschriebenen Gegebenheiten recht plakativ in einer Art schwarz-weiß Betrachtung deutlich zu machen. Dabei baut er jedoch verschiedentlich Bilder auf, die einem Leser mit einer gewissen Vorbildung über mittelalterliche Zusammenhänge zweifelhaft erscheinen müssen. Eines der krassesten Beispiele dürfte dabei die These sein, wesentlicher Fernhandel und damit Geldtransfer beschränke sich ausschließlich auf den Nord-/Ostsee- sowie den Mittelmeerraum, was zahlreiche bedeutende Fernhandelsstraßen der Alpen, sowie entlang der Binnenflüsse völlig negiert.

Geschichte mit aktuellem Zeitbezug
Großen Bezug zum aktuellen Geschehen der Finanzmärkte erlangt das Buch unbeabsichtigt im letzten Teil. Zwar wird mehrfach betont, dass die damalige Situation weit von einem modernen Wirtschafts- und Finanzbegriff entfernt war, jedoch lassen die Beschreibungen der komplexen Abläufe und vor allem derer Probleme unweigerlich gedankliche Parallelen zum aktuellen Geschehen entstehen. Wertverfall, Überschuldung, Abhängigkeit, all das sind Begriffe, die Le Goff im Mittelalterlichen Kontext verwendet, die aber ebenso einer modernen Schlagzeile entstammen könnten.
Somit wird deutlich, dass die Gesellschaft sich zwar seit dem Mittelalter verändert hat, sich aber hinsichtlich zahlreicher Aspekte weit weniger vorwärts entwickelt hat, als der Autor insistiert.

Florian Fischer / Dezember 2012